Das Böse mit dem Guten erwidern

1. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. (Matthäus Kap. V, 20)
Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

Matthäus V, 43 – 47

2. Und wenn ihr die liebet, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde. Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Denn die Sünder tun dasselbe auch. Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch die Sünder leihen den Sündern, damit sie das Gleiche bekommen. Vielmehr liebet eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Lukas, VI, 32 – 36

 3. Wenn die Liebe das Prinzip der Nächstenliebe ist, seinen Feind zu lieben ist die erhabene Anwendung davon. Denn diese Tugend stellt einen der größten errungenen Siege über den Stolz und den Egoismus dar.

 Wir haben dennoch oft eine falsche Vorstellung von der Verwendung der Worte „unseren Feind lieben“. Als Jesus diese Worte benutzte, meinte er nicht, dass wir für den Feind dieselbe Zärtlichkeit haben sollten, wie für unseren Bruder oder Freund. Zärtlichkeit setzt Vertrauen voraus und wir können kein Vertrauen in jemanden haben, von dem wir wissen, dass er uns Böses will. Es ist nicht möglich, die Freude der Freundschaft mit einer Person zu teilen, von der man weiß, dass sie diese Freundschaft missbrauchen würde. Personen, die einander misstrauen, können nicht die Sympathiebande besitzen, die zwischen denjenigen bestehen, welche dieselben Gedanken und Neigungen teilen. Schließlich kann man sagen, dass es einfach nicht möglich ist, dieselbe Freude beim Treffen eines Freundes wie beim Treffen eines Feindes zu genießen.

 Dieser Unterschied der Gefühlsart bei diesen beiden unterschiedlichen Fällen ergibt sich aus einem physischen Gesetz der fluidalen Assimilation und vom Zurückstoßen der Fluida. Der schlechte Gedanke strahlt eine fluidale Energie aus, die bei uns einen schmerzlichen Eindruck hinterlässt. Der gute Gedanke hüllt uns in eine angenehme Energie ein. Von daher bestehen unterschiedliche Gefühle zwischen denen, die wir bei der Annäherung eines Feindes spüren und denen, die wir bei der Anwesenheit eines Freundes haben. Unsere Feinde zu lieben kann nicht bedeuten, dass wir keinen Unterschied zwischen ihnen und den Freunden machen sollen. Diese Anweisung ist sehr schwierig zu akzeptieren und sogar unmöglich zu praktizieren, weil wir fälschlicherweise annehmen, dass sie uns vorschreibt, dem einen denselben Platz wie dem anderen in unserem Herzen zu geben. Wenn die Armut der menschlichen Sprache uns zwingt dieselben Worte zu benutzen, um verschiedene Gefühle auszudrücken, sollte der Verstand, eigens für jeden Fall, die notwendigen Unterschiede machen.

 Unsere Feinde zu lieben bedeutet demnach nicht, mit ihnen dieselbe Zärtlichkeit zu haben, wie sie nicht natürlich wäre, weil schon der Kontakt mit einem Feind den Takt unseres Herzens in einen anderen Rhythmus bringt, ganz anders als bei unseren Freunden. Das bedeutet jedoch nicht, sie zu hassen, ihnen zu grollen oder ihnen gegenüber Rachegefühle zu haben. Es geht darum, angesichts der Bosheit, die sie uns angetan haben, das Vergeben zu lernen – ohne Hintergedanken und ohne Bedingungen. Wir sollen für die Versöhnung keine Hindernisse aufstellen. Es geht darum, ihnen nur Gutes und nichts Böses zu wünschen und sich außerdem zu freuen, statt sich über das Gute zu ärgern, das ihnen widerfährt. Es geht darum, ihnen die Hände zu reichen, wenn sie in Not sind. Es liegt an uns, mit unseren Taten und Worten uns zu enthalten, mit allem, was ihnen schaden könnte. Wir können also alle schlechten Taten mit guten bezahlen, ohne sie erniedrigen zu wollen. Jeder, der so handelt, lebt nach diesem Gebot: Liebe deine Feinde.

4. Die Feinde zu lieben ist für die Ungläubigen ein Widerspruch. Denn für denjenigen, der nur das jetzige Leben sieht, ist der Feind ein schädliches Wesen, das ihn aus der Bequemlichkeit herausbringt, von dem er sich – denkt er – nur durch den Tod befreien kann. Daher rührt der Gedanke der Rache. Es gibt kein Interesse zu vergeben, es sei denn, um vor der Öffentlichkeit seinen Stolz zu befriedigen. Vergeben kommt ihm in manchen Fällen wie eine unwürdige Schwäche seiner Persönlichkeit vor. Auch wenn er sich nicht rächt, behält er trotzdem einen gewissen Groll und einen heimlichen Wunsch, dem anderen doch etwas Schlechtes anzutun.

 Für die Gläubigen und noch mehr für die Spiritisten ist die Anschauung noch eine ganz andere. Denn sie betrachten die Vergangenheit und die Zukunft, zwischen denen das jetzige Leben nichts anders als ein Augenblick ist. Sie wissen schon aufgrund der Bestimmung der Erde, dass sie hier böswillige und niederträchtige Menschen antreffen werden, und dass das Leiden, in dem sie sich befinden, Teil ihrer Prüfungen ist, die sie ertragen müssen. Der übergeordnete Standpunkt, den sie annehmen, hilft ihnen, diese Schicksalsschläge weniger bitter zu sehen, ungeachtet dessen, ob sie menschlich oder materiell bedingt sind. Wenn man sich nicht über die Prüfungen beschwert, soll man sich auch nicht über die Instrumente beschweren, die als Prüfungsmittel dienen. Wenn man nun statt sich zu beschweren, sich bei Gott bedankt, Der einem das ermöglicht, soll man sich auch für die Hand bedanken, die einem die Gelegenheit bietet, seine Geduld und seine Ergebenheit zu beweisen. Diese Gedanken führen einen dahin, zu vergeben. Man weiß außerdem, dass je mehr Güte man zeigt, desto höher steigt sein Standpunkt.

Somit beschützt man sich selbst vor den Pfeilen seines Feindes.  Jener Mensch, der auf dieser Erde eine höhere Stellung innehat, fühlt sich durch die niederen Beleidigungen von denen, die er unterhalb seiner geistigen Entwicklung einstuft, nicht persönlich getroffen. Dasselbe geschieht demjenigen, der durch seinen moralischen Wert über die materialistische Menschheit sich erhebt. Dieser Mensch versteht, dass Hass und Groll ihn erniedrigen und unwürdig machen würden. Denn, wenn er besser sein will als sein Gegner, muss seine Seele die erhabenere sein, gütiger und nobler als die des anderen.


Evangelium – Inhaltsverzeichnis KAPITEL  XII – Liebet eure Feinde

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