Der Spiritismus heute – zwischen freier Philosophie und religiöser Dogmatik

Die Lehre des Spiritismus nach Allan Kardec wurde ursprünglich nicht als Religion, sondern als philosophisch-moralische und wissenschaftliche Weltanschauung entworfen (siehe Buch der Geister Titel „spiritualistische Philosophie“). Kardec verstand sie als eine Methode, die geistigen Gesetze des Lebens zu erforschen und zugleich das sittliche Bewusstsein der Menschheit zu erweitern. Er betonte stets, dass der Spiritismus keine Religion im kultischen Sinne sei, sondern eine „Wissenschaft des Geistes“, die durch Vernunft, Erfahrung und Offenbarung zugleich fortschreitet.

Doch im Lauf der Geschichte hat sich der Spiritismus bzw. die Spiritistische Lehre– insbesondere in Brasilien und Lateinamerika – zunehmend zu einer religiös geprägten Bewegung entwickelt. Viele seiner Anhänger betrachten Kardec als unantastbare Autorität und verteidigen seine Schriften mit beinahe missionarischem Eifer. Dieses Phänomen lässt sich aus mehreren Perspektiven verstehen.

Zum einen bildet jede Lehre, die Trost spendet, Sinn stiftet und ein kohärentes Weltbild bietet, mit der Zeit eine soziale und emotionale Identität aus. Die Anhänger fühlen sich als Träger einer besonderen Wahrheit über das Leben nach dem Tod, die Reinkarnation und das Gesetz der moralischen Ursache und Wirkung. Diese Überzeugung stärkt die Gemeinschaft, kann jedoch leicht in eine Abwehrhaltung gegenüber Kritik oder Weiterentwicklung umschlagen.

Zum anderen trägt der Spiritismus selbst eine innere Ambivalenz in sich. Er beruht einerseits auf Beobachtung und rationaler Prüfung, andererseits auf Offenbarung durch geistige Wesen. Wird die kritische Reflexion vernachlässigt, verfestigt sich der offenbare Teil zu einem Dogma. Damit verliert die Lehre ihre ursprüngliche Dynamik und verwandelt sich in eine Art orthodoxen Glauben, der sich vor allem durch die Verteidigung seiner Reinheit definiert.

Gerade hierin liegt jedoch die entscheidende Frage: Soll der Spiritismus eine ewige Doktrin oder eine sich entwickelnde Erkenntnisbewegung sein?
Wenn er Kardecs ursprünglichen Aufruf zur fortwährenden Prüfung, Vernunft und moralischen Selbstvervollkommnung treu bleibt, kann er als Zukunftsmodell dienen – als Brücke zwischen Wissenschaft, Ethik und Spiritualität. Wenn er jedoch in Dogmatismus erstarrt, verliert er seine schöpferische Kraft und wird zu einer weiteren Religion unter vielen.


Zur Vertiefung und Reflexion („Vernunft“) kann sich jeder, vor allem wir Spiritisten selbst, sich die Fragen stellen: Warum entwickeln sich Spiritisten weltweilt zu so einer Art vehementen Verteidiger von Allan Kardecs Lehre des Spiritismus als eine Art religiöse Sekte? Ist die Spiritistische Lehre nach Allan Kardec anfälliger dafür? Und ist das ein Zukunftsmodell für die Menschheit („Dritte Verkündung“,  „eine neue Ära der Menschheit“)?

Man kann diese Frage sowohl aus soziologischer Entwicklung spiritistischer Gemeinschaften als auch als aus theologischer und psychologischer Beschaffenheit der Lehre selbst betrachtet, beantworten – hier in drei Aspekten.

1. Warum sich viele Spiritisten als vehemente Verteidiger Kardecs verstehen

Allan Kardecs Lehre des Spiritismus wurde ursprünglich als philosophisch-wissenschaftlich-moralisches System entworfen, nicht als Religion im traditionellen Sinne. Kardec betonte selbst, dass der Spiritismus „keine Religion im kultischen Sinne“ sei, sondern eine „philosophische Lehre über die geistigen Gesetze des Lebens“ und eine „Beobachtungswissenschaft sowie philosophische Lehre“.

Doch im Laufe der Zeit — vor allem in Brasilien, später auch in Lateinamerika und teilweise in Europa — entwickelte sich der Spiritismus zu einer Art religiöser Bewegung. Dafür gäbe es mehrere Gründe:

  • Institutionalisierung: Sobald sich Gemeinschaften bilden, entstehen feste Strukturen, Dogmen und Autoritäten. Kardecs Schriften wurden zu „heiligen Texten“, was ihre kritische Reflexion erschwert.
  • Identitätsbildung: Spiritisten verstehen sich oft als Träger einer besonderen Wahrheit über das Leben nach dem Tod, Reinkarnation und moralische Entwicklung. Diese Überzeugung stiftet starke kollektive Identität – ähnlich wie bei religiösen Gemeinschaften.
  • Verteidigung gegen Missverständnisse: Weil der Spiritismus häufig mit Okkultismus, Magie oder Aberglauben verwechselt wurde, entwickelte sich bei vielen Anhängern eine Abwehrhaltung gegenüber Kritik oder Alternativinterpretationen.
  • Emotionale Bindung: Die Lehre bietet Trost bei Leid und Tod – das führt oft zu einer tiefen emotionalen Identifikation mit Kardec als Lehrerfigur.

2. Ist Kardecs Lehre anfälliger für eine quasi-religiöse Erstarrung?

Ja – strukturell gesehen ist sie es durchaus.

Der Grund liegt in der Doppelstruktur des Kardecismus:

  • Einerseits beruft er sich auf Vernunft und Beobachtung („spirituelle Wissenschaft“),
  • andererseits auf Offenbarung und moralische Autorität der Geister (siehe vor allem das im „Evangelium im Lichte des Spiritismus“).

Diese Spannung zwischen kritischer Forschung und spiritueller Autorität kann leicht kippen. Wenn der rationale, empirische Aspekt in den Hintergrund tritt, bleibt der „offenbarte“ Teil übrig – und damit die Gefahr eines Dogmas (Unausgeglichenheit bei den „Drei Säulen: wissenschaftlich, religiös und philosophisch“).

Insofern ist Kardecs System von Natur aus ambivalent: Es fordert individuelle Prüfung und Glaubensfreiheit, kann aber leicht in eine orthodoxe Haltung umschlagen, wenn man seine Schriften als unfehlbar ansieht. Das kommt möglicherweise auch aus den sehr unterschiedlichen Sprachmustern und Aussagen der Antworten der unterschiedlichen Geister und Medien in den Büchern.

3. Ist der Spiritismus ein Zukunftsmodell für die Menschheit?

Das hängt stark davon ab, welche Dimension des Spiritismus man betont bzw. die Spiritisten weltweit verfolgen.

  • Wenn man Kardecs ursprünglichen, offenen Ansatz verfolgt, also eine Vernunftreligion oder spirituelle Wissenschaft zur Erforschung des Geistes und der moralischen Gesetze:
    → Dann könnte der Spiritismus tatsächlich ein Zukunftsmodell darstellen – als Brücke zwischen Wissenschaft, Ethik und Spiritualität.
  • Wenn sich jedoch eine dogmatische Orthodoxie bildet, die Kritik, Weiterentwicklung und interreligiösen Dialog abwehrt,
    → dann verliert der Spiritismus seine ursprüngliche Dynamik und wird zu einer religiösen Sekte, die nur sich selbst bestätigt.

Fazit

Die spiritistische Lehre trägt beides in sich – ein großes emanzipatorisches Potenzial und eine dogmatische Gefahr.
Ob sie zu einer offenen spirituellen Philosophie oder zu einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft wird, hängt davon ab, wie sehr ihre Anhänger Kardecs Aufruf zur „ständigen Prüfung und Weiterentwicklung“ ernst nehmen.

So hängt die Zukunft des Spiritismus letztlich von der inneren Haltung seiner Anhänger ab: ob sie sich als Suchende oder als Verteidiger einer unveränderlichen Wahrheit verstehen. Nur im ersten Fall bleibt der Geist des Spiritismus lebendig – jener Geist der Freiheit, Erkenntnis und Liebe, der Kardecs Werk ursprünglich beseelte.


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